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leseprobe band 1

Brock 

 

»Ich werde sie alle in Stücke reißen und ihre stinkenden Gedärme den Harpyien zum Fraß vorwerfen lassen!«, schrie Brock lauthals in den Saal. Sein Gesicht glich einer dämonisch grinsenden Fratze, als er seine üble Laune an alle Anwesenden im Thronsaal abließ. »Ihr Blut wird den Ligrid und Weißfluss tränken, damit jeder in Valdoonha weiß, wer ihr rechtmäßiger Herrscher ist!« 

General Mantor, ein Nordbär von gigantischen Ausmaßen, stand direkt vor dem Thron, auf dem sein König saß. Als sein Begleiter und Oberbefehlshaber der königlichen Truppen stand ihm diese Nähe zu seinem Herrn als einzigem zu. Unzählige Winter lang hatte er auf den bevorstehenden Einsatzbefehl gewartet und jetzt endlich schien der Moment gekommen zu sein. Seine Muskeln waren in Erwartung von Brocks Befehlen derart angespannt, dass sich alle Haare seines schneeweißen Fells aufrichteten. 

Die Worte waren nur so aus Brock herausgeplatzt. Zusammen mit seinem Speichel, der mit diversen Essensresten in seinem verdreckten Bart klebte. Dann erhob er sich und stand vor seinem Thron. Das Kinn nach oben gereckt und die Augenbrauen hochgezogen. Triumphierend blickte er in die Runde. Sein fettiges, in Strähnen vom Kopf hängendes Haar, ließ ihn eher einer Vogelscheuche gleichen als dem Herrscher über Varon. Doch seine Untertanen richteten ihre ängstlichen Blicke demütig zu Boden, wie sie es immer taten, wenn er in ihrer Nähe war. Mantor wusste, dass Brock diese Schmarotzer für ihre erbärmliche Angst hasste und sie für ihre Feigheit und Unterwürfigkeit verachtete. Sie würden sich alle mit Freuden eigenhändig eine Hand abschlagen, wenn er es nur von ihnen verlangte. 

Nur einer unter allen Anwesenden war anders. Mantor. Kein lebendes Wesen würde ihn, den riesigen Nordbären, jemals dazu bringen, seinen Blick von irgendetwas abzuwenden. Und weder vor Brock noch vor sonst wem hatte er Angst. 

Vor vielen Wintern hatten sich Brocks und Mantors Wege gekreuzt, als der damals noch junge König die nördlichen Inseln bereiste. Beide hatten gleich bei ihrer ersten Begegnung gefühlt, dass sie füreinander bestimmt waren. In jenem Moment war der damals noch sehr junge, weiße Nordbär zu Brocks Begleiter geworden. Mantor war seinem Herrn seither treu ergeben und setzte dessen Entscheidungen mit seiner ganzen Grausamkeit und seinem unstillbaren Blutdurst, ohne nachzudenken, um. Zudem verfügte Mantor über die nur bei den wenigen menschlichen Vermittlern auftretende Gabe, sich mit Tieren und Menschen mental austauschen zu können. Und zwar nicht nur mit seinem Herrn, Brock, sondern mit jedem Menschen. Genau diese Fähigkeit wurde zum entscheidenden Quäntchen, die ihn für Brock zum wichtigsten seiner Gefolgsleute werden ließ. 

Mantor war schnell zu einer muskelbepackten Bestie von unbeschreiblichen Ausmaßen herangewachsen. Seine Kraft und Skrupellosigkeit, gepaart mit der Heimtücke des Verschwörers, brachten ihm schließlich auch die Herrschaft über die Bäreninseln ein. Und auch wenn er von seinen Artgenossen nicht geliebt wurde, folgten sie doch seinen Befehlen. 

»Soll ich Eure Krieger in Kampfbereitschaft versetzen lassen, Herr?« 

Mantor konnte und wollte seine Anspannung nicht länger verbergen. Er zitterte jetzt so stark vor Erregung, dass sein angelegter Brustharnisch laut gegen sein genauso selten getragenes Kettenhemd schepperte. Der dadurch entstehende Lärm der einzelnen Metallplatten glich dem Angriffslied einer ganzen Armee von gepanzerten Rittern. Sein ganzes Leben lang hatte Mantor sich auf diesen einen Tag vorbereitet und jetzt endlich war der Moment gekommen. 

»Aber Mantor. Wir wollen doch nichts überstürzen, nicht wahr? Du wartest jetzt schon so lang. Sicher kannst du dich auch noch ein Weilchen länger in Geduld üben, was meinst du?« 

Brock schrie zwar nicht mehr, sprach aber so laut, dass alle Anwesenden ihn verstehen konnten. Seine königliche Stimmung hatte sich von einem Moment zum anderen gedreht, wie so oft in letzter Zeit. Sein eben noch hasserfüllter Blick hatte sich in einen väterlich besorgten Ausdruck verwandelt. Mantor fiel es unsagbar schwer, aber er verbeugte sich trotzdem mit dem nur schwer zu beherrschenden Gefühl, seinem König auf der Stelle die Kehle aus dem Hals reißen zu wollen. 

»Abgesehen davon ist es nun erst einmal Zeit für mein Vergnügen und nicht für Tod und Verdammnis, General. Du wirst dein Verlangen nach Blut noch früh genug stillen können, dafür werde ich sorgen, treuester aller Freunde.« 

Mantor verharrte weiterhin in seiner unterwürfigen Haltung, wobei er seinen Herrn nicht aus den Augen ließ. Er sah Brocks Blick, der nach rechts zu den drei großen Käfigen wanderte, welche zwischen den Säulen des Thronsaals von der Decke hingen. Dabei änderte sich Brocks Gesichtsausdruck in ein widerlich lüsternes Grinsen. Mantor ahnte, dass sein Herr bereits die Bilder nackter Frauen vor Augen hatte. Wie er sie missbrauchte, am ganzen Körper mit glühenden Eisen bearbeitete, um sie dann am Ende vielleicht sogar zu töten. Seine Diener würden bei ihren Aufräumarbeiten nicht mehr erkennen können, ob es sich bei ihren sterblichen Überresten um Frauen oder Mädchen gehandelt hatte. 

Langsamen Schrittes begab sich der König zu den Käfigen, in denen jeweils eine nackte, junge Frau auf ihr Schicksal wartete. Mantor konnte sehen, wie sich Brock an ihrer Angst ergötzte. Wie sich die Frauen zitternd und wimmernd an den Gitterstäben festhielten, ließ Brocks Pegel der Ekstase weit nach oben ausschlagen. Als er schließlich vor dem am nächsten gelegenen Käfig stand, schoss seine linke Hand so schnell durch die Gitterstäbe, dass sein Opfer nicht schnell genug reagieren konnte. Er packte eine ihrer Brüste und zog sie daran brutal zu sich heran. Die Frau schrie laut auf, doch sie hatte keine Chance gegen Brocks Kräfte. Als sie dicht vor ihm stand, packte er auch ihre andere Brust und sah an ihrem Körper herunter. Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln. Er konnte es offensichtlich kaum noch abwarten, bis ihn keine Gitterstäbe mehr von seiner neuen Gespielin trennten. 

»Ach, was soll's? Heute wird gefeiert!«, rief er laut und glotzte dabei weiter gierig auf die jungen Leiber. »Bringt sie alle in meine Gemächer!« 

Abrupt ließ er die Frau los, machte kehrt und ging eiligen Schrittes in Richtung seiner Gemächer. Doch er verharrte noch einmal und wandte sich an seinen Begleiter. 

»Mantor, halte dich bereit. Ich brauche dich, sobald ich hiermit fertig bin.« 

»Ja, Herr!« 

Unter grölendem Gelächter verschwand Brock aus dem Thronsaal. Das Zeichen für Mantor, den Wachen den Auftrag zu geben, dass sie ihre Arbeit machen sollten. Die vor Angst halb wahnsinnigen Frauen wurden daraufhin von den Soldaten aus ihren Käfigen gezerrt und in die königlichen Gemächer gezerrt. 

 

Mantor war auf alles vorbereitet gewesen, nur nicht auf das. Wie konnten seinem König die Weiber in dieser Situation wichtiger sein als die Ankömmlinge? Was war nur los mit seinem Herrn? Stets hatte er mit eiserner Faust regiert und nur ein Ziel verfolgt. Semada und König Jagur zu vernichten, um allein über die bekannte Welt zu herrschen. Und er, Mantor, Anführer der Nordbären, General und oberster Feldherr von Varon, sollte dabei an seiner Seite stehen. Sein Zorn wuchs ins Unermessliche. 

Seine Wollust und die Weiber sind ihm wichtiger als DIE Prophezeiung! 

Mit unverhohlenem Verdruss verließ Mantor den Thronsaal. Ein großer Wolfshund, der Begleiter einer königlichen Wache, ging ihm dabei nicht schnell genug aus dem Weg. Mantor wischte ihn mit einem Prankenhieb und einem ohrenbetäubend lauten Gebrüll weg. Der Hund krachte an die nächstgelegene Wand, wobei seine Knochen lautstark zerschmettert wurden und sein Herz augenblicklich zu schlagen aufhörte. 

 

Mantors Zweifel an Brock keimten schon lange in ihm. Im Laufe der vergangenen Winter waren sie von einem kleinen Pflänzchen zu einem fest verwurzelten Mandarusbaum herangewachsen. Ihm war sogar schon zu Ohren gekommen, dass seine Widersacher auf den Bäreninseln ihn selbst nur noch für den Lakaien des Königs hielten. Sein eigenes Volk wurde schon gegen ihn aufgehetzt. Momentan hatte er die Lage unter Kontrolle, aber wie lange noch? 

Mantor begab sich auf direktem Weg zum Turm des ersten Hofmagiers. Der listige Haukur hatte schon unter Brocks Vater diesen Posten innegehabt. Der alte Mann war gefährlich, keine Frage und stand ihm in seiner Intelligenz in nichts nach. Mantor musste Vorsicht walten lassen, denn er brauchte Verbündete, um seine Ziele zu erreichen. Und wer, wenn nicht Haukur, war der beste von allen möglichen Verbündeten? 

 

»Edler Mantor, was führt euch zu mir?« 

Haukur, der als begabter Vermittler mit jedem Begleiter mental Kontakt aufnehmen konnte, schaute seinen Gast selbstgefällig an. Er ließ Mantor stehen und ging in Richtung eines Tisches, auf dem dutzende bunt gefüllte Phiolen standen. Haukurs langer schwarzer Umhang reichte bis zum Boden und verdeckte seine Füße. Und da der Stoff so weit geschnitten war, dass die Bewegungen seiner altersschwachen Gebeine nicht zu sehen waren, vermittelte es den Eindruck, dass er schwebte. Seine langen und glänzend schwarzen Haare rundeten die geheimnisvolle Erscheinung ab, die düster und auch zugleich erhaben wirkte. 

Spiel du nur deine Spielchen, alter Mann. 

Die Effekthaschereien des Magiers ließen Mantor kalt. Er verachtete diesen Menschen. Magie konnte Mantor nicht beeindrucken, das hatte er dem Alten mehrfach sehr deutlich klargemacht. Am Ende aber war er auf ihn angewiesen. Noch. 

»Spar dir dein Gebrabbel, Haukur. Dafür habe ich jetzt keine Zeit.« 

Jeder seiner Besuche glich dem Vorherigen. Mantor konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, was Haukur mit all dem Zeug in diesem Zimmer tat, aber seine Erfolge sprachen für ihn. Er verfolgte jede Bewegung des Alten, bis der sich, grinsend wie ein Breitmaulfrosch, zu ihm umdrehte. 

»Ihr macht ein Gesicht, als wenn die Semader vor unseren Toren stünden. Ich vermute, dass unser Herr sich mal wieder lieber seiner Lüsternheit hingegeben hat, statt sich euren Belangen zu widmen?« 

Haukur hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er sie auch schon bereute. Wie von einer Feder katapultiert, sprang Mantor blitzschnell quer durch den Raum nach vorn und warf den alten Mann zu Boden. Mit einer seiner Pranken hielt er Haukur dort unten gefangen. 

»Zügle deine Worte, alter Mann!«, dröhnten Mantors Worte in Haukurs Kopf, wobei er seine Zähne bleckte. »Du magst dich mit den Mächten der Finsternis auskennen, aber es übersteigt deine Vorstellungskraft, wie lang und blutig dein Leidensweg wird, wenn ich mich deiner persönlich annehme!« 

Haukur schnappte nach Luft. Er hatte sich einen Schritt zu weit vorgewagt, was Mantor ihm nicht durchgehen ließ. Als der Magier versuchte, stammelnd zu antworteten, sprach er seine Worte laut aus. 

»Mantor… bitte… verzeiht… Ihr… wisst doch… um… meine Unterstützung…« 

Unter offensichtlichen Schmerzen und mit letzter Kraft stieß er die Worte hervor. Mantor sah das flackernde Licht der Angst in Haukurs Augen. Es würde nur noch wenige Augenblicke dauern, bis auch dieses Licht verloschen war, wenn er weiter auf die Brust des Alten drückte. 

Du wirst nicht mehr lange die Gelegenheit haben, dich um dein jämmerliches Stück Leben zu sorgen, wenn du so weiter machst. 

Mantor drückte den nach Luft schnappenden Magier so lange auf den Boden, bis dessen Gesicht blau anlief. Erst als er nur noch sehr flach atmete, ließ er von ihm ab. 

Der alte Mann schnappte gierig nach Luft und griff ungelenk nach einer Kante des Tisches. Langsam und röchelnd zog er sich mühsam an ihr hoch. Dabei stieß er eine der Phiolen um, die, nachdem sie zerbrach, einen unangenehmen Geruch im Raum verbreitete und ein Loch in die Tischoberfläche einbrannte. 

»Es wird Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen. Brock scheint nicht mehr zu wissen, was wichtig ist. Er gleicht einem läufigen Hund. Ihm ist jeder Weiberarsch wichtiger als die Zukunft unseres Reiches.« Mantor ging zum Turmfenster und blickte hinaus. Ohne sich zu Haukur umzudrehen, sprach er weiter zu ihm. »Und du bist dir ganz sicher, die Zeichen richtig gedeutet zu haben?« 

»General… bin mir sicher… Zeichen eindeutig… Stürme… schwarze Blitze… bei Tag… wabernde Luft… ergibt ein Ganzes…« Haukur setze sich auf einen Stuhl und atmete bemüht langsam tief ein uns aus. »Ankunft heute oder morgen… Wachen aufgestellt … alles nach Plan…« 

Erst jetzt drehte sich Mantor um und fand Gefallen am Anblick des japsenden Alten. 

»Gut. Ich will unverzüglich informiert werden, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Brock darf die Ankömmlinge unter keinen Umständen in seine Hände bekommen, vergiss das nicht!« 

Nach diesen Worten begab er sich zum Ausgang, wobei er auf dem Weg dorthin einen im Weg stehenden Stuhl zerschmetterte, als wäre dieser aus Pergament. Mantor genoss diese Art von Machtdemonstrationen, die ihm immer wieder große Freude bereiteten und den Respekt seiner Zuschauer sicherten. 

»Und sag deinem widerlich stinkenden Begleiter, dass er wieder aus seinem Loch herauskriechen kann.« 

Mantor hatte den Wolf schon vor Eintritt in Haukurs Turm gewittert. Er hatte jedes Mal seinen Gefallen daran, diesen feigen, klapprigen und verhassten Kläffer zu demütigen. 

Haukur verbeugte sich ehrerbietig in Mantors Richtung, was der Nordbär zufrieden zur Kenntnis nahm. Sein nachträgliches, hintergründiges Lächeln aber sah der General nicht mehr. 

 

Die Graydeys 

 

Daniel hatte nur kurz geschlafen. Die Nachtschicht hatte ihn gegen zwei Uhr morgens wegen eines Notfalls in die Klinik gerufen. Müde, aber zutiefst zufrieden trank er jetzt in aller Seelenruhe seinen Morgenkaffee. Sein junger Patient würde es schaffen und wieder vollständig genesen, da war er sich sicher und das war der wenige Schlaf allemal wert. Abgesehen davon bereute er auch den Rest der Nacht nicht. Daniel musste grinsen, als er an die Stunden vor dem Notfallanruf dachte. 

Als er gerade seinen zweiten Schluck trank, gesellte sich Anna zu ihm in die Küche und begrüßte ihren Mann mit einem zärtlichen Kuss auf seine Stirn, bevor sie sich auch Kaffee eingoss. 

Anna war 43, ging aber für Mitte 30 durch. Sie besaß diese Gene, die sie wie eine niemals alternde Vollblut-Italienerin aussehen ließen. Ihr Körper war rundherum topfit und durchtrainiert. Beim Gehen sah man jeden Muskel ihre Beine, auch die höher gelegenen, die sich geschmeidig und koordiniert bewegten. Annas langes, rotes Haar fiel ihr wild über Schultern und Rücken bis fast hinunter zum Po. Sie trug ein kurzes, enganliegendes Top, das ihr bis kurz über den spitzenbesetzten Slip reichte. Daniel konnte ihren gepiercten Bauchnabel sehen und sich ein weiteres Grinsen nicht verkneifen. Gab es einen schöneren Anblick an einem Samstagmorgen? Wie immer genoss er den Anblick seiner schönen Frau. Und ganz besonders jetzt, wo sie sich in der Nacht zuvor geliebt hatten und die Erinnerung daran in ihm noch frisch war. 

»So. Und jetzt bitte die Einzelheiten deiner nächtlichen Arbeit.« 

Anna setzte sich so auf Daniels Schoß, dass sie sich in die Augen schauen konnten. Ihre beiden Blicke waren voller Verlangen nach dem anderen. 

Gott, ich liebe diese Frau! 

»Ich bin mir sicher, dass der Kleine wieder gesund wird. Er hatte Glück im Unglück.« 

Daniel stellte seine Tasse auf den Tisch und nestelte an Annas Top, um er ihr am Rücken nach oben zu schieben. 

»Mein lieber Mann, das nenne ich aber mal Understatement.« Anna lächelte ihn über ihren Becherrand an. »Kann es vielleicht sein, dass du dem Glück dabei ein ganz kleines bisschen auf die Sprünge geholfen hast?« Ihr Lächeln wurde noch breiter als sich Daniels Hände in Richtung ihrer Brüste hin orientierten. 

»Na ja, vielleicht ein klein wenig. Aber dafür habe ich früher ja auch extra ein Semester Wie habe ich auch mal Glück? belegt.« 

Daniel war trotz seiner steilen Karriere, er hatte es bis zum Alter von 37 Jahren schon auf die Position des Chefarztes der Chirurgie gebracht, ein bescheidener Mensch geblieben. Er hing seine Erfolge nicht gern an die große Glocke. Anna hingegen hielt ihn für einen außerordentlich begabten Chirurgen. Und als Tierärztin mit der Fachrichtung Chirurgie konnte sie das durchaus beurteilen. Schon oft hatte sie ihm geraten, sein Licht nicht immer unter den Scheffel zu stellen. Anna war der Meinung, er solle sein Wissen nicht nur in der Praxis, sondern auch viel mehr für die Forschung einsetzen. 

»Deine Bescheidenheit ist so wahnsinnig sexy.«, hauchte sie ihm ins Ohr und fuhr dabei mit beiden Händen durch seine Haare, um danach mit ihrer Zunge sein Ohr zu erkunden. 

Daniels Erregung wuchs prompt, was Anna mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Doch genau in dem Moment, als sich ihre Lippen und Zungen für einen Kuss fanden, wurden sie abrupt durch ihre beiden Kinder gestoppt, die in die Küche stürmten. Der Zauber des Moments war verflogen, noch bevor er richtig begonnen hatte. 

»Leute, das geht ja echt gar nicht!« 

Zielsicher steuerte Megan auf den Kühlschrank zu. Sie sah dabei zu ihren Eltern rüber und verdrehte ihre Augen. Ihrem Verständnis nach hatten Eltern keinen Sex. Und ihre Eltern schon mal gar nicht. 

»Könnt ihr nicht zumindest die Finger voneinander lassen, wenn einer von uns in der Nähe ist?« 

Am Kühlschrank angekommen, griff sie sich ein Glas Erdnussbutter und gönnte sich eine Portion mit ihren Fingern. 

»Schwesterchen, das verstehst du nicht.« 

Tyler gesellte sich jetzt auch zu ihnen. Oder vielmehr konnte er nicht anders, denn sein Ziel war ebenfalls die Plünderung des Kühlschranks. Und da der nun mal in der Küche stand, hatte er keine andere Wahl gehabt, als seiner Schwester zu folgen. Er nahm sich eine Schüssel aus einem der Oberschränke und füllte sie mit Cornflakes, um sie danach in kalter Milch zu ertränken. 

»Noch nicht.«, schob er noch grinsend hinterher, bevor er sich den Mund vollstopfte. 

»Du musst es ja wissen, Don Juan.« 

Anna und Daniel folgten dem Austausch wortlos und mit großen Augen, wobei ihr Blicke während der Konversation ihrer Kinder von einem zum anderen wechselten. 

»Schatz? Wir sollten darüber nachdenken, uns eine eigene Wohnung zu suchen. Hier haben wir keine Privatsphäre mehr.«, schlug Daniel in ernstem Tonfall vor. 

Doch ihm und Anna gelang es nur wenige Augenblicke lang ernst bleiben, bevor sie beide zu lachen anfingen. 

 

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, fiel Daniel auf, dass zwei Familienmitglieder in ihrer Runde fehlten. 

»Was machen eigentlich unsere beiden Etagentiger? Haben die beiden heute keine Lust auf Frühstück?« 

»Gute Frage. Mir sind sie heute auch noch nicht über den Weg gelaufen.« 

Mit einem tiefen Bedauern in ihren Blicken und einem letzten, kurzen Kuss standen beide auf. Daniel vermutete die Gesuchten im Garten und ging nach draußen, um sie zu suchen. 

»Missie? Master? Wo seid ihr? Euer Frühstück wartet.« 

Nach nur wenigen Augenblicken fand er die beiden hinter einem Rosenbusch, wo sie die morgendliche Sonne genossen. In voller Länge lagen die beiden Katzen auf dem warmen Rasen. Als sie Daniel sahen, hoben sie ihre Köpfe und schauten ihn aus zu schmalen Schlitzen zusammengedrückten Augen an. 

»Guten Morgen, ihr zwei Faulenzer. Genug geschlafen, euer Frühstück wartet auf euch.« 

Daniel hockte sich vor sie hin und streichelte beiden Katzen die Bäuche, wofür sie sich mit einem laut vernehmlichen Schnurren bedankten. Als er schließlich zurück in die Küche ging, erhoben sich Missie und Master langsam, um sich erst einmal ausgiebig zu strecken. Danach trotteten sie gemächlich in Richtung Haus, als wenn die ganze Welt nur auf sie warten würde. 

 

Daniel hatte die beiden, einen Kater und eine Katze, vor etwa vier Jahren laut miauend auf der Treppe ihres Hauseingangs vorgefunden. Laut Anna waren sie damals etwa acht Wochen alt gewesen. Der Kater war eine Maine Coon, seine Gefährtin eine norwegische Waldkatze. Anna fand es damals äußerst seltsam, dass jemand zwei tadellos gepflegte und gesunde Rassekatzen ausgesetzt hatte. Jede Einzelne von ihnen hätte ihrem Besitzer beim Verkauf gut und gern 1.500 Dollar eingebracht. Ihre damaligen Recherchen nach dem Halter waren allesamt im Sand verlaufen. Eine Woche nach ihrem Auftauchen hatte sie dann schließlich dem Drängen ihrer Familie nachgegeben und die beiden Kätzchen offiziell als neue Familienmitglieder begrüßt. 

Bei der Namensfindung hatte sich zunächst Tyler besonders hervorgetan. Dick und Doof, Batman und Catwoman oder auch Bonny und Clyde waren nur einige seiner Vorschläge gewesen. Am Ende waren dann aber alle seine Vorschläge beim Familienrat durchgefallen, was bei ihm auf völliges Unverständnis gestoßen war. 

»Wir sollten sie Missie und Master nennen. Master für den Kater, weil Mum gesagt hat, dass er mal sehr groß und stark wird. Und Missie für das süße Kätzchen, weil sie genauso aussieht, wie eine kleine Missie.« 

Tylers Nörgeln über Megans ach so kindischen Vorschlag hatte nichts geholfen. Anna und Daniel waren über den Vorschlag auch begeistert gewesen, womit es 3:1 lautete und die Namen feststanden. 

Die New Yorker Upper Eastside war eine gute und noble Gegend, aber für streunende Katzen kein geeignetes Terrain. Die Graydeys wollten ihren Katzen aber mehr als nur das Haus als Lebensraum bieten und hatten deshalb ihren Garten komplett hoch einzäunen lassen. Das hatte sich im Nachhinein jedoch als völlig unnötig erwiesen, denn die beiden wollten gar nicht ausbüchsen. Ganz im Gegenteil. Verließ einer aus der Familie das Haus, setzten die beiden sich neben die Eingangstür und schauten ihnen hinterher, bis sich die Türe schloss. Einen Ausbruchversuch in den Vorgarten oder zu den Nachbargrundstücken unternahmen sie nie. 

Master wuchs mit knapp zehn Kilogramm und einer Länge von 130 cm zu einem ausgesprochen stattlichen Kater heran. Genauso, wie Anna es vorhergesagt hatte. Sein langes Fell schimmerte dunkelgrau und er hatte große, gelbgrüne und hell funkelnde Augen. Missie stand Master in ihrer Größe nicht viel nach. Genauso wenig wie mit ihrer Schönheit. Besonders auffällig an ihr war die Fellfärbung. Schnauze, Hals und Pfoten waren weiß gezeichnet, der Rest ihres Fells dunkelbraun, mit hellbraunen und grauen Schattierungen. 

Die beiden Katzen gab es nur im Doppelpack, wobei Daniel der Meinung war, dass Master auf Missie aufpasse. Das bekam auch eines schönen Tages der Golden Retriever ihrer Nachbarn zu spüren, als er wieder einmal einen auf dicke Hose machte, wie Tyler es immer nannte. Der Hund stand direkt am Zaun und kläffte wie besessen in Missies Richtung. Dabei achtete er aber nicht auf ihren Beschützer, der sich von der Seite her durch die Büsche anschlich. Als er ihn dann doch bemerkte, war es schon zu spät. Noch bevor er seine Schnauze vom Zaun wegziehen konnte, hatte Master ihm eins verpasst. Seither hatte der Retriever großen Respekt vor den Katzen und zog es lieber vor, einen entsprechenden Abstand zum Zaun einzuhalten und etwas verhaltener zu bellen. 

Erkrankten die Kinder oder waren sie mal richtig mies gelaunt, hatten Missie und Master auch dafür einen sechsten Sinn. Sie hielten sich dann immer in ihrer Nähe auf, wobei sie ganz extrem auf Schmusekurs gingen. Die größte Nähe aber bauten sie zu Daniel auf. Der verbrachte zwar am wenigsten Zeit zuhause, konnte sich aber immer ihrer Gesellschaft sicher sein, wenn er heimkam. Sobald er sich auf einer Couch oder einem Sessel niederließ, sprangen beide zu ihm hoch und machten es sich neben oder auf ihm bequem. Daniel hatte lange versucht, sie von der Couch fernzuhalten, doch die beiden erwiesen sich als noch sturer als er selbst. Irgendwann hatte er entnervt aufgegeben und sich ihrer Taktik ergeben. Nur das Schlafzimmer von ihm und Anna blieb für sie ein Tabu, woran sie sich komischerweise auch strikt hielten. 

 

Es war ein herrlicher Samstag im Spätfrühling und alle genossen ihren freien Tag. Daniel wunderte sich daher nicht, dass es schon kurz nach dreizehn Uhr war, bis Megan und Tyler frisch gestylt zu ihnen in die Küche kamen. 

»Liegt bei einem von Euch etwas an oder habt ihr Lust auf einen Vorschlag?« 

Daniel faltete seine Times, die er, wenn möglich, jeden Samstag ausführlich studierte. Er sah seine Familienmitglieder einen nach dem anderen erwartungsvoll an. Megan, Tyler und auch Anna schauten überrascht zurück. Es war höchst selten, dass Daniel einen ganzen Samstag Zeit für sie hatte. Sollte heute etwa wieder einmal solch ein Tag sein? 

»Kommt drauf an, was du anzubieten hast.« 

Vom Kühlschrank aus, den er zum zweiten Mal an diesem Tag plünderte, kniff Tyler seiner Schwester ein Auge zu. 

»Tja. Wollen mal sehen…« Langsam zog Daniel einen Umschlag aus der Zeitung, in die er ihn kurz zuvor versteckt hatte. »Ach, vergesst es einfach. Ihr müsstet quasi sofort abfahrbereit sein und daraus wird eh nichts.« Er schob den Umschlag wieder zurück zwischen die Seiten und tat so, als würde er weiterlesen wollen. 

»Wir sind doch schon längst fertig.«, rief Megan, ohne dass ihr Vater darauf reagierte. »Na komm schon, Dad. Mach’s nicht so spannend.« 

Megan tat es ihrem Bruder gleich und nahm sich auch noch einmal den Kühlschrank vor. Zielsicher griff sie dabei zur ihrer geliebten Erdnussbutter. 

»Okayyyy…« Das Wort zog sich immer länger. Der Umschlag erschien ein zweites Mal unter der Zeitung und Daniel begann, ihn in Zeitlupentempo zu öffnen. »Schauen wir doch mal, was wir hier haben.« 

Er riss das Papier auf und entnahm ihm vier einzelne Blätter, mit denen er vor den Augen seiner genervten Familie herumwedelte. 

»Un? Ird daf eute no waf?« 

Tylers Frage kam ihm mit den Resten seiner dritten Portion Cornflakes im Mund nur äußerst undeutlich über seine Lippen. 

Daniel grinste. Er wusste genau, dass sein Sohn vor Spannung beinah platzte, auch wenn er gerade völlig cool rüberzukommen versuchte. Genüsslich lehnte er sich zurück und verschränkte in aller Seelenruhe die Arme hinter dem Kopf, wobei er weiter mit den Blättern wedelte. Doch stellte er die Frage, die seine Familie aus dem Häuschen brachte. 

»Was sagt euch der Name Carmelo Anthony?« 

Treffer, versenkt! 

Tylers Löffel stockte auf halbem Weg zu seinem Mund. Die Milch tropfe ihm dabei erst über sein Kinn und dann weiter auf sein T-Shirt. Megan verfehlte mit ihrem mit Erdnussbutter beschmierten Finger ihren Mund und schmierte sich das klebrige Zeug stattdessen an die Wange. Und selbst Anna stand der Mund offen, als sie diesen Namen hörte. Da aber keiner der drei ein Wort herausbrachte, was Daniel diebisch freute, übernahm er wieder die Initiative. 

»Ich kenne da jemanden, der jemand anderen kennt. Und der hat seine Beziehungen für mich spielen lassen.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und musste sich zusammenreißen, um beim Anblick der drei ziemlich dumm aussehenden Gesichter nicht zu lachen. »Okay, machen wir es kurz. Ich könnte euch zu den Nicks mitnehmen, falls ihr Zeit und Lust auf ein Spiel mit Plätzen direkt hinter ihrer Bank hättet.« 

Noch immer keine Reaktion. Betont langsam griff Daniel zu seinem Handy und öffnete sein Adressbuch, um darin nach einer Adresse zu suchen. »Da keiner von euch antwortet, seid ihr vermutlich schon anderweitig verplant. Aber das ist schon okay. Ich werde es mal bei meiner Pokerrunde versuchen. Die Jungs warten schon auf meinen Anruf. Hatte die schon vorher informiert, da ich nicht davon ausgegangen bin, dass ihr Lust und Zeit auf das Spiel habt.« 

Wie auf ein geheimes Kommando hin, fingen Anna und die Kinder an zu schreien und stürzten sich auf ihn. Sie begruben ihn förmlich unter sich und Daniel fürchtete kurzzeitig, dass sein Stuhl das nicht überleben könnte. 

»Ich werte das mal als eine Zustimmung eurerseits.«, drang es aus dem Gewühl der übereinanderliegenden Körper hervor. »Na dann. Macht euch bitte schnell fertig. Das Spiel fängt zwar erst um 16 Uhr an, aber ich habe VIP-Karten, mit denen wir nicht nur in den Catering-Bereich kommen, …«, Tylers Grinsen in Erwartung auf ein nicht endendes Buffet wurde unerreicht breit, »…sondern auch zu der Pressekonferenz und dem Meet and Greet mit den Spielern.« Daniel wusste nur zu gut, dass Megan momentan unsterblich in Carmelo Anthony, dem Super-Star der New York Nicks, verknallt war. Ihr schwärmerischer Gesichtsausdruck stand Tylers vorfreudiges Grinsen auf das Essen in nichts nach. 

»Okay, die beiden wären dann jawohl versorgt.«, schloss Daniel seine Ansprache, schob die drei weg und erhob sich von seinem Stuhl. 

»Und was springt für mich raus?« Anna stand mit verschränkten Armen und Schmollmund vor ihm. Daniel ging auf sie zu, nahm sie in die Arme und sah ihr dabei tief in die Augen. 

»Sie, Mrs. Graydey, dürfen das Spiel neben ihrem Mann genießen. Und wenn sie sich später dafür auf die eine oder andere Weise dankbar erweisen möchten, wird ihnen das durchaus positiv angerechnet.« 

Wie beim Tango ließ er Anna danach zur Seite sinken und küsste sie. 

»Mein Gott! Ihr seid ja so was von peinlich!« 

Megan verdrehte ihre Augen und ging in Richtung ihres Zimmers. 

 

Es dauerte keine dreißig Minuten, bis alle vier Graydeys zur Abreise parat im Wohnzimmer standen. Eine halbe Stunde, in der Megan es geschafft hatte, sich ihrer Familie in sechs verschiedenen Outfits zu präsentieren. Tyler und Daniel saßen derweil kopfschüttelnd auf dem Sofa und folgten der Prozedur. 

»Wir gehen zum Basketball und nicht zu einer Modenschau!« 

Tylers Verständnis für die Verkleidungsarie seiner Schwester war auf dem Nullpunkt angekommen, doch Megan strafte ihn nur mit Missachtung. Nachdem sie sich dann aber doch unter dem Beifall ihres Bruders entschieden hatte, musste Daniel nur noch die Verandatür schließen, bevor sie zur nächstgelegenen U-Bahn-Station gehen konnten. Dabei schaute er mehr zufällig zum Himmel und verharrte in der Bewegung. Er hätte Stein und Bein darauf geschworen, dass bis eben noch die Sonne am blauen Himmel zu sehen gewesen war. Jetzt aber sah er statt des schönen Himmels riesige, dunkle Wolken, die sich vor der Sonne auftürmten. Und je länger Daniel hinsah, umso größer wurde sein Eindruck, dass sie sich drehten und dem Erdboden immer näherkamen. 

»Was in aller Welt…?« 

Daniel redete so laut, dass alle anderen ihn hören konnten. Neugierig drängten sich sofort Megan und Tyler an ihm vorbei in den Garten. 

»Ist ja irre!«, brachte es Tyler auf den Punkt. 

»Der Hammer!«, ergänzte Megan noch präziser. 

»Kommt um Gottes Willen zurück ins Haus!« Anna zog an den Armen ihrer Kinder, aber sie rissen sich los und ignorierten sie. »Daniel, bitte! Kommt alle rein!« Anna war weiß Gott kein ängstlicher Mensch, aber ihrer Stimme war die aufkommende Panik deutlich anzuhören. 

»Mum, Dad! Schaut euch das mal an. Das ist ja unglaublich!« 

Megan war wie verzaubert von dem Anblick, der sich ihnen bot und sie schien nicht eine Sekunde daran zu denken, sich dieses Schauspiel entgehen zu lassen. Selbst Carmelo Anthony schien komplett aus ihren Gedanken verschwunden zu sein. In der Mitte des Rasens stehend drehte sie sich im Kreis, streckte gleichzeitig ihre Arme aus und schaute zum Himmel hoch. 

Mittlerweile hatten die Wolken die Form eines Wirbels angenommen, der sich immer schneller drehte und zum Greifen nah über ihren Köpfen tobte. Daniel bekam bei diesem Schauspiel nur am Rande mit, was Anna und die Kinder riefen und taten. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte Missie und Master, die auch im Garten waren und sich vor ihre Familie gestellt hatten. 

Das sieht ja fast so aus, als wenn sie uns schützen wollen. 

»Was zur Hölle…?« 

Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn unter ohrenbetäubendem Krachen zuckten mehrere schwarze Blitze aus der Wolke heraus und trafen die Katzen. Missie und Master standen dabei wie versteinerte Statuen auf dem Rasen. Fast hätte Daniel gemeint, sie hätten nur auf dieses Ereignis gewartet, so ruhig blieben die beiden. 

Schwarze Blitze? Das kann doch gar nicht sein! 

Daniel erwartete, dass die beiden auf der Stelle tot umfallen oder zu Asche verbrennen würden, doch nichts dergleichen geschah. Immer mehr der dunklen Entladungen krachten laut donnernd in die beiden Tiere und nach jedem Einschlag wuchsen ihre Körper deutlich an. Daniel beugte sich leicht nach vorn, um genauer hinsehen zu können. Tatsächlich. Ihre Katzen wuchsen unter den Einschlägen der Blitze! Es dauerte nicht lange, bis Master eine Größe erreicht hatte, die der eines ausgewachsenen Tigers alle Ehre gemacht hätte und sein Wachstum hielt weiter an. Jetzt bekam es auch Daniel mit der Angst zu tun. 

Wieso wachsen die beiden, statt zu sterben? Warum bleiben sie stehen? Warum rennen sie nicht weg? Warum… 

 

»Daniel, sei ohne Furcht.« 

 

»Wer hat das gesagt?« 

Hektisch drehte sich Daniel nach allen Seiten um. Doch alles, was er sah, waren Anna und die Kinder, die sich aneinandergeklammert hatten. Mit der anfänglichen Begeisterung war es jetzt offensichtlich auch bei seinen Kindern vorbei. Die drei schauten wie gebannt in Richtung von Missie und Master, wie er es selbst bis gerade getan hatte. 

 

»Sei ohne Furcht.« 

 

»Soll das ein Witz sein, oder was?« 

Daniel drehte sich wieder seinen Katzen zu und brüllte gegen den Wind an, der sich mittlerweile auf Orkanstärke hochgearbeitet hatte. Ein Gefühl sagte ihm, dass die unbekannte Stimme aus ihrer Richtung gekommen sein musste. 

»Wer zum Henker spricht hier mit mir?« 

Missie und Master waren mittlerweile so groß, dass Daniel bequem auf ihnen hätte reiten können und sie wuchsen noch weiter. Seine Katzen sahen ihn an, ohne eine Wimper zu bewegen, was bei dem Sturm und den in sie einschlagenden Blitzen völlig unmöglich war. 

»Was soll das alles?», schrie er ihnen entgegen. 

Seine Kraft reichte kaum noch aus, um sich auf den Beinen zu halten, so stark zerrte jetzt der Wind an ihm. 

Master und Missie waren mittlerweile auf die Ausmaße überdimensional großer Tiger angewachsen, wobei ihr sonstiges Aussehen erhalten geblieben war. Und jetzt war sich Daniel auch sicher, dass sich seine beiden Katzen tatsächlich zwischen den Wirbel und die Menschen gestellt hatten. Er war sich sicher, dass sie ihre Familie schützen wollten. 

»Daniel! Weg von den Blitzen!« 

Das Chaos hielt Daniels Sinne weiterhin gefangen. Er hatte Anna wie durch einen dichten Herbstnebel gehört, doch die Szenerie um ihn herum war trotz ihrer Gefährlichkeit so faszinierend, dass er sich auf nichts anderes konzentrieren konnte.  

Plötzlich wurde das Crescendo der Orkanlautstärke noch durch ein tiefes Grollen verstärkt, bis sich schlagartig eine bleierne Stille über die Graydeys ergoss. Daniel glaubte schon an ein Ende des Wahnsinns, als unvermittelt ein weiterer schwarzer Blitz aus dem Wolkengebilde hervorschoss. An Lautstärke und Intensität übertraf er alle vorherigen bei Weitem. 

Brock 

 

»Ich werde sie alle in Stücke reißen und ihre stinkenden Gedärme den Harpyien zum Fraß vorwerfen lassen!«, schrie Brock lauthals in den Saal. Sein Gesicht glich einer dämonisch grinsenden Fratze, als er seine üble Laune an alle Anwesenden im Thronsaal abließ. »Ihr Blut wird den Ligrid und Weißfluss tränken, damit jeder in Valdoonha weiß, wer ihr rechtmäßiger Herrscher ist!« 

General Mantor, ein Nordbär von gigantischen Ausmaßen, stand direkt vor dem Thron, auf dem sein König saß. Als sein Begleiter und Oberbefehlshaber der königlichen Truppen stand ihm diese Nähe zu seinem Herrn als einzigem zu. Unzählige Winter lang hatte er auf den bevorstehenden Einsatzbefehl gewartet und jetzt endlich schien der Moment gekommen zu sein. Seine Muskeln waren in Erwartung von Brocks Befehlen derart angespannt, dass sich alle Haare seines schneeweißen Fells aufrichteten. 

Die Worte waren nur so aus Brock herausgeplatzt. Zusammen mit seinem Speichel, der mit diversen Essensresten in seinem verdreckten Bart klebte. Dann erhob er sich und stand vor seinem Thron. Das Kinn nach oben gereckt und die Augenbrauen hochgezogen. Triumphierend blickte er in die Runde. Sein fettiges, in Strähnen vom Kopf hängendes Haar, ließ ihn eher einer Vogelscheuche gleichen als dem Herrscher über Varon. Doch seine Untertanen richteten ihre ängstlichen Blicke demütig zu Boden, wie sie es immer taten, wenn er in ihrer Nähe war. Mantor wusste, dass Brock diese Schmarotzer für ihre erbärmliche Angst hasste und sie für ihre Feigheit und Unterwürfigkeit verachtete. Sie würden sich alle mit Freuden eigenhändig eine Hand abschlagen, wenn er es nur von ihnen verlangte. 

Nur einer unter allen Anwesenden war anders. Mantor. Kein lebendes Wesen würde ihn, den riesigen Nordbären, jemals dazu bringen, seinen Blick von irgendetwas abzuwenden. Und weder vor Brock noch vor sonst wem hatte er Angst. 

Vor vielen Wintern hatten sich Brocks und Mantors Wege gekreuzt, als der damals noch junge König die nördlichen Inseln bereiste. Beide hatten gleich bei ihrer ersten Begegnung gefühlt, dass sie füreinander bestimmt waren. In jenem Moment war der damals noch sehr junge, weiße Nordbär zu Brocks Begleiter geworden. Mantor war seinem Herrn seither treu ergeben und setzte dessen Entscheidungen mit seiner ganzen Grausamkeit und seinem unstillbaren Blutdurst, ohne nachzudenken, um. Zudem verfügte Mantor über die nur bei den wenigen menschlichen Vermittlern auftretende Gabe, sich mit Tieren und Menschen mental austauschen zu können. Und zwar nicht nur mit seinem Herrn, Brock, sondern mit jedem Menschen. Genau diese Fähigkeit wurde zum entscheidenden Quäntchen, die ihn für Brock zum wichtigsten seiner Gefolgsleute werden ließ. 

Mantor war schnell zu einer muskelbepackten Bestie von unbeschreiblichen Ausmaßen herangewachsen. Seine Kraft und Skrupellosigkeit, gepaart mit der Heimtücke des Verschwörers, brachten ihm schließlich auch die Herrschaft über die Bäreninseln ein. Und auch wenn er von seinen Artgenossen nicht geliebt wurde, folgten sie doch seinen Befehlen. 

»Soll ich Eure Krieger in Kampfbereitschaft versetzen lassen, Herr?« 

Mantor konnte und wollte seine Anspannung nicht länger verbergen. Er zitterte jetzt so stark vor Erregung, dass sein angelegter Brustharnisch laut gegen sein genauso selten getragenes Kettenhemd schepperte. Der dadurch entstehende Lärm der einzelnen Metallplatten glich dem Angriffslied einer ganzen Armee von gepanzerten Rittern. Sein ganzes Leben lang hatte Mantor sich auf diesen einen Tag vorbereitet und jetzt endlich war der Moment gekommen. 

»Aber Mantor. Wir wollen doch nichts überstürzen, nicht wahr? Du wartest jetzt schon so lang. Sicher kannst du dich auch noch ein Weilchen länger in Geduld üben, was meinst du?« 

Brock schrie zwar nicht mehr, sprach aber so laut, dass alle Anwesenden ihn verstehen konnten. Seine königliche Stimmung hatte sich von einem Moment zum anderen gedreht, wie so oft in letzter Zeit. Sein eben noch hasserfüllter Blick hatte sich in einen väterlich besorgten Ausdruck verwandelt. Mantor fiel es unsagbar schwer, aber er verbeugte sich trotzdem mit dem nur schwer zu beherrschenden Gefühl, seinem König auf der Stelle die Kehle aus dem Hals reißen zu wollen. 

»Abgesehen davon ist es nun erst einmal Zeit für mein Vergnügen und nicht für Tod und Verdammnis, General. Du wirst dein Verlangen nach Blut noch früh genug stillen können, dafür werde ich sorgen, treuester aller Freunde.« 

Mantor verharrte weiterhin in seiner unterwürfigen Haltung, wobei er seinen Herrn nicht aus den Augen ließ. Er sah Brocks Blick, der nach rechts zu den drei großen Käfigen wanderte, welche zwischen den Säulen des Thronsaals von der Decke hingen. Dabei änderte sich Brocks Gesichtsausdruck in ein widerlich lüsternes Grinsen. Mantor ahnte, dass sein Herr bereits die Bilder nackter Frauen vor Augen hatte. Wie er sie missbrauchte, am ganzen Körper mit glühenden Eisen bearbeitete, um sie dann am Ende vielleicht sogar zu töten. Seine Diener würden bei ihren Aufräumarbeiten nicht mehr erkennen können, ob es sich bei ihren sterblichen Überresten um Frauen oder Mädchen gehandelt hatte. 

Langsamen Schrittes begab sich der König zu den Käfigen, in denen jeweils eine nackte, junge Frau auf ihr Schicksal wartete. Mantor konnte sehen, wie sich Brock an ihrer Angst ergötzte. Wie sich die Frauen zitternd und wimmernd an den Gitterstäben festhielten, ließ Brocks Pegel der Ekstase weit nach oben ausschlagen. Als er schließlich vor dem am nächsten gelegenen Käfig stand, schoss seine linke Hand so schnell durch die Gitterstäbe, dass sein Opfer nicht schnell genug reagieren konnte. Er packte eine ihrer Brüste und zog sie daran brutal zu sich heran. Die Frau schrie laut auf, doch sie hatte keine Chance gegen Brocks Kräfte. Als sie dicht vor ihm stand, packte er auch ihre andere Brust und sah an ihrem Körper herunter. Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln. Er konnte es offensichtlich kaum noch abwarten, bis ihn keine Gitterstäbe mehr von seiner neuen Gespielin trennten. 

»Ach, was soll's? Heute wird gefeiert!«, rief er laut und glotzte dabei weiter gierig auf die jungen Leiber. »Bringt sie alle in meine Gemächer!« 

Abrupt ließ er die Frau los, machte kehrt und ging eiligen Schrittes in Richtung seiner Gemächer. Doch er verharrte noch einmal und wandte sich an seinen Begleiter. 

»Mantor, halte dich bereit. Ich brauche dich, sobald ich hiermit fertig bin.« 

»Ja, Herr!« 

Unter grölendem Gelächter verschwand Brock aus dem Thronsaal. Das Zeichen für Mantor, den Wachen den Auftrag zu geben, dass sie ihre Arbeit machen sollten. Die vor Angst halb wahnsinnigen Frauen wurden daraufhin von den Soldaten aus ihren Käfigen gezerrt und in die königlichen Gemächer gezerrt. 

 

Mantor war auf alles vorbereitet gewesen, nur nicht auf das. Wie konnten seinem König die Weiber in dieser Situation wichtiger sein als die Ankömmlinge? Was war nur los mit seinem Herrn? Stets hatte er mit eiserner Faust regiert und nur ein Ziel verfolgt. Semada und König Jagur zu vernichten, um allein über die bekannte Welt zu herrschen. Und er, Mantor, Anführer der Nordbären, General und oberster Feldherr von Varon, sollte dabei an seiner Seite stehen. Sein Zorn wuchs ins Unermessliche. 

Seine Wollust und die Weiber sind ihm wichtiger als DIE Prophezeiung! 

Mit unverhohlenem Verdruss verließ Mantor den Thronsaal. Ein großer Wolfshund, der Begleiter einer königlichen Wache, ging ihm dabei nicht schnell genug aus dem Weg. Mantor wischte ihn mit einem Prankenhieb und einem ohrenbetäubend lauten Gebrüll weg. Der Hund krachte an die nächstgelegene Wand, wobei seine Knochen lautstark zerschmettert wurden und sein Herz augenblicklich zu schlagen aufhörte. 

 

Mantors Zweifel an Brock keimten schon lange in ihm. Im Laufe der vergangenen Winter waren sie von einem kleinen Pflänzchen zu einem fest verwurzelten Mandarusbaum herangewachsen. Ihm war sogar schon zu Ohren gekommen, dass seine Widersacher auf den Bäreninseln ihn selbst nur noch für den Lakaien des Königs hielten. Sein eigenes Volk wurde schon gegen ihn aufgehetzt. Momentan hatte er die Lage unter Kontrolle, aber wie lange noch? 

Mantor begab sich auf direktem Weg zum Turm des ersten Hofmagiers. Der listige Haukur hatte schon unter Brocks Vater diesen Posten innegehabt. Der alte Mann war gefährlich, keine Frage und stand ihm in seiner Intelligenz in nichts nach. Mantor musste Vorsicht walten lassen, denn er brauchte Verbündete, um seine Ziele zu erreichen. Und wer, wenn nicht Haukur, war der beste von allen möglichen Verbündeten? 

 

»Edler Mantor, was führt euch zu mir?« 

Haukur, der als begabter Vermittler mit jedem Begleiter mental Kontakt aufnehmen konnte, schaute seinen Gast selbstgefällig an. Er ließ Mantor stehen und ging in Richtung eines Tisches, auf dem dutzende bunt gefüllte Phiolen standen. Haukurs langer schwarzer Umhang reichte bis zum Boden und verdeckte seine Füße. Und da der Stoff so weit geschnitten war, dass die Bewegungen seiner altersschwachen Gebeine nicht zu sehen waren, vermittelte es den Eindruck, dass er schwebte. Seine langen und glänzend schwarzen Haare rundeten die geheimnisvolle Erscheinung ab, die düster und auch zugleich erhaben wirkte. 

Spiel du nur deine Spielchen, alter Mann. 

Die Effekthaschereien des Magiers ließen Mantor kalt. Er verachtete diesen Menschen. Magie konnte Mantor nicht beeindrucken, das hatte er dem Alten mehrfach sehr deutlich klargemacht. Am Ende aber war er auf ihn angewiesen. Noch. 

»Spar dir dein Gebrabbel, Haukur. Dafür habe ich jetzt keine Zeit.« 

Jeder seiner Besuche glich dem Vorherigen. Mantor konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, was Haukur mit all dem Zeug in diesem Zimmer tat, aber seine Erfolge sprachen für ihn. Er verfolgte jede Bewegung des Alten, bis der sich, grinsend wie ein Breitmaulfrosch, zu ihm umdrehte. 

»Ihr macht ein Gesicht, als wenn die Semader vor unseren Toren stünden. Ich vermute, dass unser Herr sich mal wieder lieber seiner Lüsternheit hingegeben hat, statt sich euren Belangen zu widmen?« 

Haukur hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er sie auch schon bereute. Wie von einer Feder katapultiert, sprang Mantor blitzschnell quer durch den Raum nach vorn und warf den alten Mann zu Boden. Mit einer seiner Pranken hielt er Haukur dort unten gefangen. 

»Zügle deine Worte, alter Mann!«, dröhnten Mantors Worte in Haukurs Kopf, wobei er seine Zähne bleckte. »Du magst dich mit den Mächten der Finsternis auskennen, aber es übersteigt deine Vorstellungskraft, wie lang und blutig dein Leidensweg wird, wenn ich mich deiner persönlich annehme!« 

Haukur schnappte nach Luft. Er hatte sich einen Schritt zu weit vorgewagt, was Mantor ihm nicht durchgehen ließ. Als der Magier versuchte, stammelnd zu antworteten, sprach er seine Worte laut aus. 

»Mantor… bitte… verzeiht… Ihr… wisst doch… um… meine Unterstützung…« 

Unter offensichtlichen Schmerzen und mit letzter Kraft stieß er die Worte hervor. Mantor sah das flackernde Licht der Angst in Haukurs Augen. Es würde nur noch wenige Augenblicke dauern, bis auch dieses Licht verloschen war, wenn er weiter auf die Brust des Alten drückte. 

Du wirst nicht mehr lange die Gelegenheit haben, dich um dein jämmerliches Stück Leben zu sorgen, wenn du so weiter machst. 

Mantor drückte den nach Luft schnappenden Magier so lange auf den Boden, bis dessen Gesicht blau anlief. Erst als er nur noch sehr flach atmete, ließ er von ihm ab. 

Der alte Mann schnappte gierig nach Luft und griff ungelenk nach einer Kante des Tisches. Langsam und röchelnd zog er sich mühsam an ihr hoch. Dabei stieß er eine der Phiolen um, die, nachdem sie zerbrach, einen unangenehmen Geruch im Raum verbreitete und ein Loch in die Tischoberfläche einbrannte. 

»Es wird Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen. Brock scheint nicht mehr zu wissen, was wichtig ist. Er gleicht einem läufigen Hund. Ihm ist jeder Weiberarsch wichtiger als die Zukunft unseres Reiches.« Mantor ging zum Turmfenster und blickte hinaus. Ohne sich zu Haukur umzudrehen, sprach er weiter zu ihm. »Und du bist dir ganz sicher, die Zeichen richtig gedeutet zu haben?« 

»General… bin mir sicher… Zeichen eindeutig… Stürme… schwarze Blitze… bei Tag… wabernde Luft… ergibt ein Ganzes…« Haukur setze sich auf einen Stuhl und atmete bemüht langsam tief ein uns aus. »Ankunft heute oder morgen… Wachen aufgestellt … alles nach Plan…« 

Erst jetzt drehte sich Mantor um und fand Gefallen am Anblick des japsenden Alten. 

»Gut. Ich will unverzüglich informiert werden, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Brock darf die Ankömmlinge unter keinen Umständen in seine Hände bekommen, vergiss das nicht!« 

Nach diesen Worten begab er sich zum Ausgang, wobei er auf dem Weg dorthin einen im Weg stehenden Stuhl zerschmetterte, als wäre dieser aus Pergament. Mantor genoss diese Art von Machtdemonstrationen, die ihm immer wieder große Freude bereiteten und den Respekt seiner Zuschauer sicherten. 

»Und sag deinem widerlich stinkenden Begleiter, dass er wieder aus seinem Loch herauskriechen kann.« 

Mantor hatte den Wolf schon vor Eintritt in Haukurs Turm gewittert. Er hatte jedes Mal seinen Gefallen daran, diesen feigen, klapprigen und verhassten Kläffer zu demütigen. 

Haukur verbeugte sich ehrerbietig in Mantors Richtung, was der Nordbär zufrieden zur Kenntnis nahm. Sein nachträgliches, hintergründiges Lächeln aber sah der General nicht mehr. 

Die Graydeys 

 

Daniel hatte nur kurz geschlafen. Die Nachtschicht hatte ihn gegen zwei Uhr morgens wegen eines Notfalls in die Klinik gerufen. Müde, aber zutiefst zufrieden trank er jetzt in aller Seelenruhe seinen Morgenkaffee. Sein junger Patient würde es schaffen und wieder vollständig genesen, da war er sich sicher und das war der wenige Schlaf allemal wert. Abgesehen davon bereute er auch den Rest der Nacht nicht. Daniel musste grinsen, als er an die Stunden vor dem Notfallanruf dachte. 

Als er gerade seinen zweiten Schluck trank, gesellte sich Anna zu ihm in die Küche und begrüßte ihren Mann mit einem zärtlichen Kuss auf seine Stirn, bevor sie sich auch Kaffee eingoss. 

Anna war 43, ging aber für Mitte 30 durch. Sie besaß diese Gene, die sie wie eine niemals alternde Vollblut-Italienerin aussehen ließen. Ihr Körper war rundherum topfit und durchtrainiert. Beim Gehen sah man jeden Muskel ihre Beine, auch die höher gelegenen, die sich geschmeidig und koordiniert bewegten. Annas langes, rotes Haar fiel ihr wild über Schultern und Rücken bis fast hinunter zum Po. Sie trug ein kurzes, enganliegendes Top, das ihr bis kurz über den spitzenbesetzten Slip reichte. Daniel konnte ihren gepiercten Bauchnabel sehen und sich ein weiteres Grinsen nicht verkneifen. Gab es einen schöneren Anblick an einem Samstagmorgen? Wie immer genoss er den Anblick seiner schönen Frau. Und ganz besonders jetzt, wo sie sich in der Nacht zuvor geliebt hatten und die Erinnerung daran in ihm noch frisch war. 

»So. Und jetzt bitte die Einzelheiten deiner nächtlichen Arbeit.« 

Anna setzte sich so auf Daniels Schoß, dass sie sich in die Augen schauen konnten. Ihre beiden Blicke waren voller Verlangen nach dem anderen. 

Gott, ich liebe diese Frau! 

»Ich bin mir sicher, dass der Kleine wieder gesund wird. Er hatte Glück im Unglück.« 

Daniel stellte seine Tasse auf den Tisch und nestelte an Annas Top, um er ihr am Rücken nach oben zu schieben. 

»Mein lieber Mann, das nenne ich aber mal Understatement.« Anna lächelte ihn über ihren Becherrand an. »Kann es vielleicht sein, dass du dem Glück dabei ein ganz kleines bisschen auf die Sprünge geholfen hast?« Ihr Lächeln wurde noch breiter als sich Daniels Hände in Richtung ihrer Brüste hin orientierten. 

»Na ja, vielleicht ein klein wenig. Aber dafür habe ich früher ja auch extra ein Semester Wie habe ich auch mal Glück? belegt.« 

Daniel war trotz seiner steilen Karriere, er hatte es bis zum Alter von 37 Jahren schon auf die Position des Chefarztes der Chirurgie gebracht, ein bescheidener Mensch geblieben. Er hing seine Erfolge nicht gern an die große Glocke. Anna hingegen hielt ihn für einen außerordentlich begabten Chirurgen. Und als Tierärztin mit der Fachrichtung Chirurgie konnte sie das durchaus beurteilen. Schon oft hatte sie ihm geraten, sein Licht nicht immer unter den Scheffel zu stellen. Anna war der Meinung, er solle sein Wissen nicht nur in der Praxis, sondern auch viel mehr für die Forschung einsetzen. 

»Deine Bescheidenheit ist so wahnsinnig sexy.«, hauchte sie ihm ins Ohr und fuhr dabei mit beiden Händen durch seine Haare, um danach mit ihrer Zunge sein Ohr zu erkunden. 

Daniels Erregung wuchs prompt, was Anna mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Doch genau in dem Moment, als sich ihre Lippen und Zungen für einen Kuss fanden, wurden sie abrupt durch ihre beiden Kinder gestoppt, die in die Küche stürmten. Der Zauber des Moments war verflogen, noch bevor er richtig begonnen hatte. 

»Leute, das geht ja echt gar nicht!« 

Zielsicher steuerte Megan auf den Kühlschrank zu. Sie sah dabei zu ihren Eltern rüber und verdrehte ihre Augen. Ihrem Verständnis nach hatten Eltern keinen Sex. Und ihre Eltern schon mal gar nicht. 

»Könnt ihr nicht zumindest die Finger voneinander lassen, wenn einer von uns in der Nähe ist?« 

Am Kühlschrank angekommen, griff sie sich ein Glas Erdnussbutter und gönnte sich eine Portion mit ihren Fingern. 

»Schwesterchen, das verstehst du nicht.« 

Tyler gesellte sich jetzt auch zu ihnen. Oder vielmehr konnte er nicht anders, denn sein Ziel war ebenfalls die Plünderung des Kühlschranks. Und da der nun mal in der Küche stand, hatte er keine andere Wahl gehabt, als seiner Schwester zu folgen. Er nahm sich eine Schüssel aus einem der Oberschränke und füllte sie mit Cornflakes, um sie danach in kalter Milch zu ertränken. 

»Noch nicht.«, schob er noch grinsend hinterher, bevor er sich den Mund vollstopfte. 

»Du musst es ja wissen, Don Juan.« 

Anna und Daniel folgten dem Austausch wortlos und mit großen Augen, wobei ihr Blicke während der Konversation ihrer Kinder von einem zum anderen wechselten. 

»Schatz? Wir sollten darüber nachdenken, uns eine eigene Wohnung zu suchen. Hier haben wir keine Privatsphäre mehr.«, schlug Daniel in ernstem Tonfall vor. 

Doch ihm und Anna gelang es nur wenige Augenblicke lang ernst bleiben, bevor sie beide zu lachen anfingen. 

 

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, fiel Daniel auf, dass zwei Familienmitglieder in ihrer Runde fehlten. 

»Was machen eigentlich unsere beiden Etagentiger? Haben die beiden heute keine Lust auf Frühstück?« 

»Gute Frage. Mir sind sie heute auch noch nicht über den Weg gelaufen.« 

Mit einem tiefen Bedauern in ihren Blicken und einem letzten, kurzen Kuss standen beide auf. Daniel vermutete die Gesuchten im Garten und ging nach draußen, um sie zu suchen. 

»Missie? Master? Wo seid ihr? Euer Frühstück wartet.« 

Nach nur wenigen Augenblicken fand er die beiden hinter einem Rosenbusch, wo sie die morgendliche Sonne genossen. In voller Länge lagen die beiden Katzen auf dem warmen Rasen. Als sie Daniel sahen, hoben sie ihre Köpfe und schauten ihn aus zu schmalen Schlitzen zusammengedrückten Augen an. 

»Guten Morgen, ihr zwei Faulenzer. Genug geschlafen, euer Frühstück wartet auf euch.« 

Daniel hockte sich vor sie hin und streichelte beiden Katzen die Bäuche, wofür sie sich mit einem laut vernehmlichen Schnurren bedankten. Als er schließlich zurück in die Küche ging, erhoben sich Missie und Master langsam, um sich erst einmal ausgiebig zu strecken. Danach trotteten sie gemächlich in Richtung Haus, als wenn die ganze Welt nur auf sie warten würde. 

 

Daniel hatte die beiden, einen Kater und eine Katze, vor etwa vier Jahren laut miauend auf der Treppe ihres Hauseingangs vorgefunden. Laut Anna waren sie damals etwa acht Wochen alt gewesen. Der Kater war eine Maine Coon, seine Gefährtin eine norwegische Waldkatze. Anna fand es damals äußerst seltsam, dass jemand zwei tadellos gepflegte und gesunde Rassekatzen ausgesetzt hatte. Jede Einzelne von ihnen hätte ihrem Besitzer beim Verkauf gut und gern 1.500 Dollar eingebracht. Ihre damaligen Recherchen nach dem Halter waren allesamt im Sand verlaufen. Eine Woche nach ihrem Auftauchen hatte sie dann schließlich dem Drängen ihrer Familie nachgegeben und die beiden Kätzchen offiziell als neue Familienmitglieder begrüßt. 

Bei der Namensfindung hatte sich zunächst Tyler besonders hervorgetan. Dick und Doof, Batman und Catwoman oder auch Bonny und Clyde waren nur einige seiner Vorschläge gewesen. Am Ende waren dann aber alle seine Vorschläge beim Familienrat durchgefallen, was bei ihm auf völliges Unverständnis gestoßen war. 

»Wir sollten sie Missie und Master nennen. Master für den Kater, weil Mum gesagt hat, dass er mal sehr groß und stark wird. Und Missie für das süße Kätzchen, weil sie genauso aussieht, wie eine kleine Missie.« 

Tylers Nörgeln über Megans ach so kindischen Vorschlag hatte nichts geholfen. Anna und Daniel waren über den Vorschlag auch begeistert gewesen, womit es 3:1 lautete und die Namen feststanden. 

Die New Yorker Upper Eastside war eine gute und noble Gegend, aber für streunende Katzen kein geeignetes Terrain. Die Graydeys wollten ihren Katzen aber mehr als nur das Haus als Lebensraum bieten und hatten deshalb ihren Garten komplett hoch einzäunen lassen. Das hatte sich im Nachhinein jedoch als völlig unnötig erwiesen, denn die beiden wollten gar nicht ausbüchsen. Ganz im Gegenteil. Verließ einer aus der Familie das Haus, setzten die beiden sich neben die Eingangstür und schauten ihnen hinterher, bis sich die Türe schloss. Einen Ausbruchversuch in den Vorgarten oder zu den Nachbargrundstücken unternahmen sie nie. 

Master wuchs mit knapp zehn Kilogramm und einer Länge von 130 cm zu einem ausgesprochen stattlichen Kater heran. Genauso, wie Anna es vorhergesagt hatte. Sein langes Fell schimmerte dunkelgrau und er hatte große, gelbgrüne und hell funkelnde Augen. Missie stand Master in ihrer Größe nicht viel nach. Genauso wenig wie mit ihrer Schönheit. Besonders auffällig an ihr war die Fellfärbung. Schnauze, Hals und Pfoten waren weiß gezeichnet, der Rest ihres Fells dunkelbraun, mit hellbraunen und grauen Schattierungen. 

Die beiden Katzen gab es nur im Doppelpack, wobei Daniel der Meinung war, dass Master auf Missie aufpasse. Das bekam auch eines schönen Tages der Golden Retriever ihrer Nachbarn zu spüren, als er wieder einmal einen auf dicke Hose machte, wie Tyler es immer nannte. Der Hund stand direkt am Zaun und kläffte wie besessen in Missies Richtung. Dabei achtete er aber nicht auf ihren Beschützer, der sich von der Seite her durch die Büsche anschlich. Als er ihn dann doch bemerkte, war es schon zu spät. Noch bevor er seine Schnauze vom Zaun wegziehen konnte, hatte Master ihm eins verpasst. Seither hatte der Retriever großen Respekt vor den Katzen und zog es lieber vor, einen entsprechenden Abstand zum Zaun einzuhalten und etwas verhaltener zu bellen. 

Erkrankten die Kinder oder waren sie mal richtig mies gelaunt, hatten Missie und Master auch dafür einen sechsten Sinn. Sie hielten sich dann immer in ihrer Nähe auf, wobei sie ganz extrem auf Schmusekurs gingen. Die größte Nähe aber bauten sie zu Daniel auf. Der verbrachte zwar am wenigsten Zeit zuhause, konnte sich aber immer ihrer Gesellschaft sicher sein, wenn er heimkam. Sobald er sich auf einer Couch oder einem Sessel niederließ, sprangen beide zu ihm hoch und machten es sich neben oder auf ihm bequem. Daniel hatte lange versucht, sie von der Couch fernzuhalten, doch die beiden erwiesen sich als noch sturer als er selbst. Irgendwann hatte er entnervt aufgegeben und sich ihrer Taktik ergeben. Nur das Schlafzimmer von ihm und Anna blieb für sie ein Tabu, woran sie sich komischerweise auch strikt hielten. 

 

Es war ein herrlicher Samstag im Spätfrühling und alle genossen ihren freien Tag. Daniel wunderte sich daher nicht, dass es schon kurz nach dreizehn Uhr war, bis Megan und Tyler frisch gestylt zu ihnen in die Küche kamen. 

»Liegt bei einem von Euch etwas an oder habt ihr Lust auf einen Vorschlag?« 

Daniel faltete seine Times, die er, wenn möglich, jeden Samstag ausführlich studierte. Er sah seine Familienmitglieder einen nach dem anderen erwartungsvoll an. Megan, Tyler und auch Anna schauten überrascht zurück. Es war höchst selten, dass Daniel einen ganzen Samstag Zeit für sie hatte. Sollte heute etwa wieder einmal solch ein Tag sein? 

»Kommt drauf an, was du anzubieten hast.« 

Vom Kühlschrank aus, den er zum zweiten Mal an diesem Tag plünderte, kniff Tyler seiner Schwester ein Auge zu. 

»Tja. Wollen mal sehen…« Langsam zog Daniel einen Umschlag aus der Zeitung, in die er ihn kurz zuvor versteckt hatte. »Ach, vergesst es einfach. Ihr müsstet quasi sofort abfahrbereit sein und daraus wird eh nichts.« Er schob den Umschlag wieder zurück zwischen die Seiten und tat so, als würde er weiterlesen wollen. 

»Wir sind doch schon längst fertig.«, rief Megan, ohne dass ihr Vater darauf reagierte. »Na komm schon, Dad. Mach’s nicht so spannend.« 

Megan tat es ihrem Bruder gleich und nahm sich auch noch einmal den Kühlschrank vor. Zielsicher griff sie dabei zur ihrer geliebten Erdnussbutter. 

»Okayyyy…« Das Wort zog sich immer länger. Der Umschlag erschien ein zweites Mal unter der Zeitung und Daniel begann, ihn in Zeitlupentempo zu öffnen. »Schauen wir doch mal, was wir hier haben.« 

Er riss das Papier auf und entnahm ihm vier einzelne Blätter, mit denen er vor den Augen seiner genervten Familie herumwedelte. 

»Un? Ird daf eute no waf?« 

Tylers Frage kam ihm mit den Resten seiner dritten Portion Cornflakes im Mund nur äußerst undeutlich über seine Lippen. 

Daniel grinste. Er wusste genau, dass sein Sohn vor Spannung beinah platzte, auch wenn er gerade völlig cool rüberzukommen versuchte. Genüsslich lehnte er sich zurück und verschränkte in aller Seelenruhe die Arme hinter dem Kopf, wobei er weiter mit den Blättern wedelte. Doch stellte er die Frage, die seine Familie aus dem Häuschen brachte. 

»Was sagt euch der Name Carmelo Anthony?« 

Treffer, versenkt! 

Tylers Löffel stockte auf halbem Weg zu seinem Mund. Die Milch tropfe ihm dabei erst über sein Kinn und dann weiter auf sein T-Shirt. Megan verfehlte mit ihrem mit Erdnussbutter beschmierten Finger ihren Mund und schmierte sich das klebrige Zeug stattdessen an die Wange. Und selbst Anna stand der Mund offen, als sie diesen Namen hörte. Da aber keiner der drei ein Wort herausbrachte, was Daniel diebisch freute, übernahm er wieder die Initiative. 

»Ich kenne da jemanden, der jemand anderen kennt. Und der hat seine Beziehungen für mich spielen lassen.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und musste sich zusammenreißen, um beim Anblick der drei ziemlich dumm aussehenden Gesichter nicht zu lachen. »Okay, machen wir es kurz. Ich könnte euch zu den Nicks mitnehmen, falls ihr Zeit und Lust auf ein Spiel mit Plätzen direkt hinter ihrer Bank hättet.« 

Noch immer keine Reaktion. Betont langsam griff Daniel zu seinem Handy und öffnete sein Adressbuch, um darin nach einer Adresse zu suchen. »Da keiner von euch antwortet, seid ihr vermutlich schon anderweitig verplant. Aber das ist schon okay. Ich werde es mal bei meiner Pokerrunde versuchen. Die Jungs warten schon auf meinen Anruf. Hatte die schon vorher informiert, da ich nicht davon ausgegangen bin, dass ihr Lust und Zeit auf das Spiel habt.« 

Wie auf ein geheimes Kommando hin, fingen Anna und die Kinder an zu schreien und stürzten sich auf ihn. Sie begruben ihn förmlich unter sich und Daniel fürchtete kurzzeitig, dass sein Stuhl das nicht überleben könnte. 

»Ich werte das mal als eine Zustimmung eurerseits.«, drang es aus dem Gewühl der übereinanderliegenden Körper hervor. »Na dann. Macht euch bitte schnell fertig. Das Spiel fängt zwar erst um 16 Uhr an, aber ich habe VIP-Karten, mit denen wir nicht nur in den Catering-Bereich kommen, …«, Tylers Grinsen in Erwartung auf ein nicht endendes Buffet wurde unerreicht breit, »…sondern auch zu der Pressekonferenz und dem Meet and Greet mit den Spielern.« Daniel wusste nur zu gut, dass Megan momentan unsterblich in Carmelo Anthony, dem Super-Star der New York Nicks, verknallt war. Ihr schwärmerischer Gesichtsausdruck stand Tylers vorfreudiges Grinsen auf das Essen in nichts nach. 

»Okay, die beiden wären dann jawohl versorgt.«, schloss Daniel seine Ansprache, schob die drei weg und erhob sich von seinem Stuhl. 

»Und was springt für mich raus?« Anna stand mit verschränkten Armen und Schmollmund vor ihm. Daniel ging auf sie zu, nahm sie in die Arme und sah ihr dabei tief in die Augen. 

»Sie, Mrs. Graydey, dürfen das Spiel neben ihrem Mann genießen. Und wenn sie sich später dafür auf die eine oder andere Weise dankbar erweisen möchten, wird ihnen das durchaus positiv angerechnet.« 

Wie beim Tango ließ er Anna danach zur Seite sinken und küsste sie. 

»Mein Gott! Ihr seid ja so was von peinlich!« 

Megan verdrehte ihre Augen und ging in Richtung ihres Zimmers. 

 

Es dauerte keine dreißig Minuten, bis alle vier Graydeys zur Abreise parat im Wohnzimmer standen. Eine halbe Stunde, in der Megan es geschafft hatte, sich ihrer Familie in sechs verschiedenen Outfits zu präsentieren. Tyler und Daniel saßen derweil kopfschüttelnd auf dem Sofa und folgten der Prozedur. 

»Wir gehen zum Basketball und nicht zu einer Modenschau!« 

Tylers Verständnis für die Verkleidungsarie seiner Schwester war auf dem Nullpunkt angekommen, doch Megan strafte ihn nur mit Missachtung. Nachdem sie sich dann aber doch unter dem Beifall ihres Bruders entschieden hatte, musste Daniel nur noch die Verandatür schließen, bevor sie zur nächstgelegenen U-Bahn-Station gehen konnten. Dabei schaute er mehr zufällig zum Himmel und verharrte in der Bewegung. Er hätte Stein und Bein darauf geschworen, dass bis eben noch die Sonne am blauen Himmel zu sehen gewesen war. Jetzt aber sah er statt des schönen Himmels riesige, dunkle Wolken, die sich vor der Sonne auftürmten. Und je länger Daniel hinsah, umso größer wurde sein Eindruck, dass sie sich drehten und dem Erdboden immer näherkamen. 

»Was in aller Welt…?« 

Daniel redete so laut, dass alle anderen ihn hören konnten. Neugierig drängten sich sofort Megan und Tyler an ihm vorbei in den Garten. 

»Ist ja irre!«, brachte es Tyler auf den Punkt. 

»Der Hammer!«, ergänzte Megan noch präziser. 

»Kommt um Gottes Willen zurück ins Haus!« Anna zog an den Armen ihrer Kinder, aber sie rissen sich los und ignorierten sie. »Daniel, bitte! Kommt alle rein!« Anna war weiß Gott kein ängstlicher Mensch, aber ihrer Stimme war die aufkommende Panik deutlich anzuhören. 

»Mum, Dad! Schaut euch das mal an. Das ist ja unglaublich!« 

Megan war wie verzaubert von dem Anblick, der sich ihnen bot und sie schien nicht eine Sekunde daran zu denken, sich dieses Schauspiel entgehen zu lassen. Selbst Carmelo Anthony schien komplett aus ihren Gedanken verschwunden zu sein. In der Mitte des Rasens stehend drehte sie sich im Kreis, streckte gleichzeitig ihre Arme aus und schaute zum Himmel hoch. 

Mittlerweile hatten die Wolken die Form eines Wirbels angenommen, der sich immer schneller drehte und zum Greifen nah über ihren Köpfen tobte. Daniel bekam bei diesem Schauspiel nur am Rande mit, was Anna und die Kinder riefen und taten. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte Missie und Master, die auch im Garten waren und sich vor ihre Familie gestellt hatten. 

Das sieht ja fast so aus, als wenn sie uns schützen wollen. 

»Was zur Hölle…?« 

Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn unter ohrenbetäubendem Krachen zuckten mehrere schwarze Blitze aus der Wolke heraus und trafen die Katzen. Missie und Master standen dabei wie versteinerte Statuen auf dem Rasen. Fast hätte Daniel gemeint, sie hätten nur auf dieses Ereignis gewartet, so ruhig blieben die beiden. 

Schwarze Blitze? Das kann doch gar nicht sein! 

Daniel erwartete, dass die beiden auf der Stelle tot umfallen oder zu Asche verbrennen würden, doch nichts dergleichen geschah. Immer mehr der dunklen Entladungen krachten laut donnernd in die beiden Tiere und nach jedem Einschlag wuchsen ihre Körper deutlich an. Daniel beugte sich leicht nach vorn, um genauer hinsehen zu können. Tatsächlich. Ihre Katzen wuchsen unter den Einschlägen der Blitze! Es dauerte nicht lange, bis Master eine Größe erreicht hatte, die der eines ausgewachsenen Tigers alle Ehre gemacht hätte und sein Wachstum hielt weiter an. Jetzt bekam es auch Daniel mit der Angst zu tun. 

Wieso wachsen die beiden, statt zu sterben? Warum bleiben sie stehen? Warum rennen sie nicht weg? Warum… 

 

»Daniel, sei ohne Furcht.« 

 

»Wer hat das gesagt?« 

Hektisch drehte sich Daniel nach allen Seiten um. Doch alles, was er sah, waren Anna und die Kinder, die sich aneinandergeklammert hatten. Mit der anfänglichen Begeisterung war es jetzt offensichtlich auch bei seinen Kindern vorbei. Die drei schauten wie gebannt in Richtung von Missie und Master, wie er es selbst bis gerade getan hatte. 

 

»Sei ohne Furcht.« 

 

»Soll das ein Witz sein, oder was?« 

Daniel drehte sich wieder seinen Katzen zu und brüllte gegen den Wind an, der sich mittlerweile auf Orkanstärke hochgearbeitet hatte. Ein Gefühl sagte ihm, dass die unbekannte Stimme aus ihrer Richtung gekommen sein musste. 

»Wer zum Henker spricht hier mit mir?« 

Missie und Master waren mittlerweile so groß, dass Daniel bequem auf ihnen hätte reiten können und sie wuchsen noch weiter. Seine Katzen sahen ihn an, ohne eine Wimper zu bewegen, was bei dem Sturm und den in sie einschlagenden Blitzen völlig unmöglich war. 

»Was soll das alles?», schrie er ihnen entgegen. 

Seine Kraft reichte kaum noch aus, um sich auf den Beinen zu halten, so stark zerrte jetzt der Wind an ihm. 

Master und Missie waren mittlerweile auf die Ausmaße überdimensional großer Tiger angewachsen, wobei ihr sonstiges Aussehen erhalten geblieben war. Und jetzt war sich Daniel auch sicher, dass sich seine beiden Katzen tatsächlich zwischen den Wirbel und die Menschen gestellt hatten. Er war sich sicher, dass sie ihre Familie schützen wollten. 

»Daniel! Weg von den Blitzen!« 

Das Chaos hielt Daniels Sinne weiterhin gefangen. Er hatte Anna wie durch einen dichten Herbstnebel gehört, doch die Szenerie um ihn herum war trotz ihrer Gefährlichkeit so faszinierend, dass er sich auf nichts anderes konzentrieren konnte.  

Plötzlich wurde das Crescendo der Orkanlautstärke noch durch ein tiefes Grollen verstärkt, bis sich schlagartig eine bleierne Stille über die Graydeys ergoss. Daniel glaubte schon an ein Ende des Wahnsinns, als unvermittelt ein weiterer schwarzer Blitz aus dem Wolkengebilde hervorschoss. An Lautstärke und Intensität übertraf er alle vorherigen bei Weitem. 

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